Besserer Schutz für Mädchen und Frauen mit Behinderung


CMS Stiftung News · 4. März 2024

Mädchen und Frauen mit Behinderung sind deutlich häufiger von Gewalt betroffen als Nichtbeeinträchtigte, weshalb sich der bff: Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe – Frauen gegen Gewalt e.V. seit 2010 mit immer neuen Projekten diesem Thema widmet. Nun will er dazu beitragen, eine UN-Forderung umzusetzen, die der Staat bisher vernachlässigt hat: Durch Gewaltschutzkonzepte soll diese besonders vulnerable Gruppe in Einrichtungen der Behindertenhilfe besser geschützt werden. Ermöglicht wird das Projekt durch die Co-Förderung der CMS Stiftung im Rahmen ihres Handlungsfeldes „Legal Empowerment“. Ein Interview mit bff-Geschäftsführerin Katharina Göpner.

 

 

Frau Göpner, am 8. März ist Weltfrauentag. Der bff beschäftigt sich seit 20 Jahren als Dachverband von 215 Organisationen in Deutschland mit Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Wie ist die aktuelle Situation?

Katharina Göpner: Wir wissen aus Studien, dass jede vierte Frau in Deutschland Gewalt in Partnerschaften und mindestens jede siebte Frau strafrechtlich relevante sexualisierte Gewalt erlebt. Und dass die Anzahl der Betroffenen, die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz und in der Öffentlichkeit erleben, noch viel höher ist: Mehr als die Hälfte der Frauen sind im Laufe ihres Lebens mindestens einmal betroffen und viele davon wiederholt.

 

Haben Sie in den letzten Jahren Entwicklungslinien identifizieren können?

Wir haben es zunehmend mit digitaler Gewalt zu tun, also mit Angriffen im Netz wie digitalem Stalking und Überwachung. Das haben wir im bff zu einem Schwerpunktthema gemacht.

 

 

„Wir haben damals die Zugangshürden zu den Beratungsstellen gesenkt
und
das hat gut funktioniert.“

 

 

Ein anderes ihrer Schwerpunktthemen ist die Gewalt gegen Mädchen und Frauen mit Behinderung.

Wir beschäftigen uns mit dem Thema seit 2010. Zunächst ging es darum, unsere Beratungsstellen für das Thema zu sensibilisieren, weil wir damals schon wussten, dass Frauen und Mädchen mit Behinderungen noch viel häufiger von Gewalt betroffen sind als nicht behinderte Frauen und Mädchen.

 

Warum ist das so?

Dies hängt mit den besonderen Lebensumständen zusammen. Diese Menschen sind häufig auf Fremdversorgung angewiesen, sind in Einrichtungen untergebracht und nutzten die Angebote von Beratungsstellen deutlich seltener. Das lag sicher auch daran, dass die Beratungsstellen oft nicht barrierefrei und in leichter Sprache zugänglich waren. Wir haben damals die Zugangshürden gesenkt und das hat gut funktioniert.

 

Wie sah das aus?

Im Rahmen von „Suse – sicher und selbstbestimmt“ ging es um die Verbesserung der Vernetzungsstrukturen zwischen Einrichtungen der Behindertenhilfe, Beratungsstellen und Selbstvertretungsorganisationen. Ziel war es, die Fachkräfte konkret vor Ort zusammenzubringen, um Erfahrungen und Angebote auszutauschen. Zum anderen haben wir mit Unterstützung der CMS Stiftung das Thema Zugang zum Recht bearbeitet: Auf welche Hürden stoßen Betroffene, wenn sie den Rechtsweg beschreiten, Anzeige erstatten oder vor Gericht ziehen wollen?

 

Und welche sind das?

Ein großes Problem ist, dass Frauen und Mädchen mit Behinderungen oft die Erfahrung machen, dass ihnen nicht geglaubt wird. Zudem sind in Verfahren die Kommunikationsmöglichkeiten oft eingeschränkt und Informationen können nicht gut vermittelt werden, ganz zu schweigen von rein baulichen Barrieren beim Zugang zu Gerichtsgebäuden. Eine weitere große Hürde ist die Frage, wie man betroffenensensibel solche Verfahren durchführen kann.

 

Was bedeutet das?

Wir und unsere Beratungsstellen hören von Betroffenen immer wieder, dass Verfahren nicht selten retraumatisierend sind, dass sie lange dauern und die Vernehmungen sehr anstrengend sind. Ein Problem, vor allem wenn Betroffene besondere Bedarfe aufgrund einer spezifischen Behinderung haben.

 

Was haben Sie dagegen unternommen?

Eine Förderung der CMS Stiftung hat es uns unter anderem erlaubt, Karten mit Illustrationen und mit leichter Sprache für die Beratungs-Settings zu entwickeln, um eine nicht verbale Kommunikation zu erleichtern und zu verbessern. Wir haben außerdem ein Handbuch zum Zugang zum Strafverfahren für Frauen und Mädchen mit Behinderungen verfasst. Viele Beratungsstellen haben beides bestellt und uns positive Rückmeldungen gegeben, aber auch Bedarfe angemeldet, so dass wir das Karten-Set erweitert haben.

 

 

Im neuen Suse-Projekt „Gewaltschutz in Einrichtungen. Gewaltfrei leben und arbeiten“ wollen sie nun stärker systemisch wirken und Gewaltschutzkonzepte für Einrichtungen der Behindertenhilfe entwickeln. Was verbirgt sich dahinter?

Deutschland hat schon 2009 die sogenannte UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert, die vorschreibt, dass Menschen mit Behinderungen umfassend vor Gewalt geschützt werden müssen und dass stationäre Einrichtungen der Behindertenhilfe umfassend vor Gewalt schützen müssen. Das für die regelmäßige Staaten-Überprüfung zuständige Gremium hat allerdings mehrmals sehr deutlich darauf hingewiesen, dass der Schutz für behinderte Mädchen und Frauen in Deutschland nicht ausreichend ist.

 

Also nehmen Sie das jetzt in die Hand?

In verschiedenen Bereichen wird das in der Praxis schon ausprobiert, etwa in der Kinder- und Jugendhilfe, zum Beispiel in Kitas oder in Sportvereinen. Aber der ganze Bereich der Behindertenhilfe, vor allem wenn es um Erwachsene geht, hinkt hinterher, auch wenn einzelne Träger vorangeschritten sind. Unsere Beratungsstellen erreichen immer wieder Anfragen, ob sie beim Erarbeiten eines Gewaltschutzkonzepts unterstützen können.

 

Wie sieht der Weg zu solch einem Konzept aus?

Zunächst muss man sich die Bedingungen in einer Einrichtung ansehen und im besten Fall eine Risikoanalyse erstellen. Gibt es Bedingungen in der Einrichtung, die gewaltfördernd wirken? Ein wichtiger Baustein ist dann, dass alle im Sinne von Legal Empowerment geschult werden müssen: Was verstehen wir eigentlich unter Gewalt? Welche Maßnahmen zur Prävention und Intervention sollen verbindlich festgelegt und durchgeführt werden? Bei alldem ist es wichtig, dass die Leitungen mit einbezogen werden, die solch ein Konzept letztlich verantworten und durchsetzen müssen, sowie die Schulungen und Weiterbildungen der Menschen, die in den Einrichtungen wohnen oder arbeiten. Wenn ein Gewaltschutzkonzept in der Schublade liegen bleibt, bringt es nichts.

 

Alle wollen immer nachhaltig wirksame Ergebnisse, vergessen aber,
dass für diese Ergebnisse Menschen arbeiten und bezahlt werden müssen.“

 

 

Das heißt, dass es neben einem rahmengebenden Konzept immer der Individualisierung bedarf?

Ja, man muss das Konzept mit den Mindeststandards auf jeden Fall spezifisch anpassen. In einer Wohneinrichtung ist das Konzept ein anderes als in einer Werkstatt, in einer großen Einrichtung anders als in einer kleinen, in einer gut mit dem Hilfesystem vernetzten anders als in einer, die nicht eingebunden ist. Wir machen die Strukturarbeit. Darin sind wir gut.

 

Wer entwickelt das Rahmen-Konzept mit den Mindeststandards?

Wir wollen einen Beirat mit unterschiedlichen Expertisen ins Leben rufen. Das sind sowohl rechtliche und fachliche Expert:innen als auch Vertreterinnen aus dem Bundesnetzwerk der Frauenbeauftragten aus den entsprechenden Einrichtungen, die selbst behindert sind und am besten um die Bedarfe wissen. Vielleicht kommt auch jemand aus der Wissenschaft dazu.

 

 

Gilt dieser partizipative Ansatz auch für die Erarbeitung der spezifischen Konzepte vor Ort?

Ja, das ist uns sehr wichtig. Eine gute Vernetzung mit den Frauenbeauftragten, mit Vereinen, Beratungsstellen und Selbsthilfeorganisationen vor Ort ist elementar. Was auch bedeutet, dass wir in Organisationsentwicklung schulen müssen.

 

Wenn das Rahmenkonzept steht, wollen sie es in fünf Modellregionen erproben. Welche sind das?

Die stehen noch nicht fest. Wir werden wahrscheinlich eine kleine Ausschreibung unter allen bff-Mitgliedseinrichtungen machen, auf die man sich bewerben kann. Dabei achten wir natürlich auf eine gute regionale Verteilung.

 

 

Grundsätzlich ist Gewaltschutz eine staatliche Aufgabe,

da muss generell viel mehr Geld reingesteckt werden als bisher.“

 

 

Welche Wirkung erhoffen Sie sich, wenn Sie ans Ende der Projektlaufzeit Ende 2027 denken?

Das ist eine gute Frage. Wir achten in Projekten mit Modellstandorten immer darauf, dass der Transfer gelingt, also dass die Expertisen und Erfahrungen vor Ort gesammelt und dann bundesweit gestreut werden. Mein Wunsch wäre es also, dass in vier Jahren nicht nur alle bff-Beratungsstellen, sondern auch die Einrichtungen davon profitieren, dass wir die Mindeststandards entwickelt haben und dass es einen guten Wissenstransfer gibt. Alles natürlich zum Schutz der Mädchen und Frauen mit Behinderungen.

 

Und Sie hoffen auf Verstetigung der Finanzierung?

Unser Eindruck ist, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, das das Projekt ja maßgeblich dank der Co-Finanzierung durch die CMS Stiftung hebelt und finanziert, das Thema sehr ernst nimmt und darüber nachdenkt, wie man Betroffene besser vor Gewalt in Einrichtungen schützt. Dazu zählt auch die Frage, ob das Thema Gewaltschutz im SGB IX angepasst werden muss.

 

Kann man mit einer Regelförderung rechnen?

Eine Regelfinanzierung für den Arbeitsbereich wäre fantastisch. In der Regel handelt es sich aber um befristete Projektmittel und Zuschüsse. Die Erfahrung zeigt: Wenn man ein Thema erfolgreich umgesetzt hat, wird die Arbeit eher mehr als weniger. Alle wollen immer nachhaltig wirksame Ergebnisse, vergessen aber, dass für diese Ergebnisse Menschen arbeiten und bezahlt werden müssen. Diese strukturelle Arbeit machen wir jetzt erst einmal, dafür sind wir sehr dankbar. Aber grundsätzlich ist Gewaltschutz eine staatliche Aufgabe, da muss generell viel mehr Geld reingesteckt werden als bisher.

 

 


Der bff und Suse

Im 2004 gegründeten „Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe – Frauen gegen Gewalt e.V.“ mit Sitz in Berlin sind über 215 Mitgliedsorganisationen zusammengeschlossen, die in Deutschland den hauptsächlichen Anteil der ambulanten Beratung und Hilfestellung für weibliche Opfer von Gewalt leisten. Der Verband unterstützt die Arbeit vor Ort durch Öffentlichkeitsarbeit, Informationsmaterial und Aktionen, führt Seminare und Tagungen durch, sorgt für Wissenstransfer und nimmt Einfluss auf politische Entscheidungen. Einer der Arbeitsschwerpunkte ist seit 2010 das Thema Gewalt gegen Mädchen und Frauen mit Behinderungen. Die vielfältigen Aktivitäten sind in dem Projekt „Suse – sicher und selbstbestimmt“ gebündelt. Das Teilprojekt „Suse – Im Recht!“, das den Zugang zum Recht für diese Menschen verbessern oder erst ermöglichen will, wurde bereits von der CMS Stiftung gefördert. Nun ist die Stiftung auch im neuen Projekt „Suse – Gewaltschutz in Einrichtungen. Gewaltfrei leben und arbeiten“ engagiert.


Pressekontakt

Stefanie Wismeth

 

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