Rechtszugang für Gewaltbetroffene: CMS Stiftung fördert WZB-Forschungsprojekt
CMS Stiftung News · 11. Dezember 2024
Im Innenhof des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB). Ein letzter sonniger Herbsttag. Zum ersten Mal seit ihrem Bestehen fördert die CMS Stiftung seit 2024 ein wissenschaftliches Projekt. Prof. Dr. Michael Wrase und die Rechtssoziologin Paula Edling forschen mit ihrem Team am WZB zum Thema „Zugang zum Recht auf Gewaltschutz“. Stefanie Wismeth, Geschäftsstellenleiterin der CMS Stiftung, hat mit ihnen darüber gesprochen.
Herr Professor Wrase, Sie leiten am WZB die Forschungsgruppe „Recht und Steuerung im Kontext sozialer Ungleichheiten“. Warum ist dieses Thema so wichtig?
Prof. Dr. Michael Wrase: In Deutschland gibt es ein sehr enges Verständnis von Rechtswissenschaft, das stark auf juristische Argumentation und die Berufspraxis ausgerichtet ist. Mich interessiert aber die gesellschaftliche Wirkung von Recht – wie es die Menschen in ihrem Alltag beeinflusst oder ob es überhaupt wirkt. Dieser soziologische Blickwinkel fehlt hierzulande weitgehend. Wir greifen mit unserer Forschung einen internationalen Strang auf, der in Deutschland seit den 1980er Jahren ein wenig brachliegt.
Was machen Sie konkret?
Prof. Wrase: Wir untersuchen, inwieweit das staatliche Versprechen der Gleichbehandlung im Recht, wie auch der Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt, tatsächlich eingelöst wird. Haben wirklich alle die gleichen Möglichkeiten, ihre Rechte durchzusetzen, oder erleben Menschen je nach sozialer Herkunft oder Lebenssituation Hindernisse beim Zugang zum Recht? Das sind Fragen, die lange ignoriert wurden.
Eine Studie aus Ihrem Bereich beschäftigt sich seit 2020 mit dem Thema „Zugang zum Recht in Berlin“. Lassen sich daraus allgemeingültige Aussagen ableiten?
Prof. Wrase: Bei dieser empirischen Forschungsarbeit haben wir den Zugang zur Justiz und zu den Daten aus Berliner Behörden und Gerichten. Da die Justizsysteme in Deutschland aber sehr ähnlich sind, lassen sich die Ergebnisse wahrscheinlich gut auf andere Bundesländer übertragen.
Was genau untersuchen Sie?
Prof. Wrase: Zunächst haben wir uns mit dem Verbraucher- und Mietrecht beschäftigt, weil wir hier die unterschiedlichen Zugänge der Bürger:innen zur Justiz besonders gut betrachten können. Wir analysieren über 100.000 Verfahren vor Berliner Amtsgerichten. Dabei untersuchen wir zum Beispiel, ob es eine anwaltliche Vertretung gab, ob Prozesskostenhilfe bewilligt wurde oder ob ein Migrationshintergrund einen Einfluss auf den Ausgang des Verfahrens hat. Zusätzlich führen wir qualitative Studien durch – darunter 130 Feldbeobachtungen bei Rechtsantragsstellen und Interviews mit Richter:innen, Anwält:innen und Beratungsstellen. Die Ergebnisse zeigen bereits spannende Muster.
„Viele dieser Verfahren führen am Ende nicht zu
Anordnungen nach dem Gewaltschutzgesetz“
Im Rahmen dieser Arbeit sind Sie auf einen spezifischen Teilbereich, den „Zugang zum Recht auf Gewaltschutz“ gestoßen. Was haben Sie entdeckt?
Prof. Wrase: Bei unseren Beobachtungen an Amtsgerichten, die zugleich Familiengerichte sind, fiel uns auf, dass viele Gewaltbetroffene Schwierigkeiten haben, ihren Antrag auf Schutz nach dem Gewaltschutzgesetz von 2002 geltend zu machen. Die Rechtsantragsstellen bieten dazu keine Rechtsberatung, sondern protokollieren lediglich das Vorgetragene. Dabei sind sie oft die erste Anlaufstelle für zum Teil existenzielle, persönliche Probleme, wo eigentlich erst einmal eine psychosoziale Beratung stattfinden müsste, um das Erlebte in die juristische Logik zu übersetzen. In diesen Stellen sitzen aber keine multiprofessionellen Teams. Das haben wir als Herausforderung identifiziert. Daher habe ich überlegt, hier einen Schwerpunkt zu setzen.
Und zu diesem Zeitpunkt kam Paula Edling in Ihre Forschungsgruppe.
Prof. Wrase: Ja. Ihre bisherige Forschung passte sehr gut zu unserem Schwerpunkt, da sie sich bereits mit geschlechtsspezifischer Gewalt im Kontext von Flucht und Migration beschäftigt hatte. So konnten wir daraus das Forschungsprojekt „Zugang zum Recht auf Gewaltschutz“ entwickeln und einen besonderen Akzent in unserer laufenden Forschung setzen, der sich im Wesentlichen mit Paulas Promotionsvorhaben deckt. Darüber hinaus wollen wir aber auch Handlungsempfehlungen für die Justiz und Politik erarbeiten. Grundsätzlicher geht es um geschlechtsspezifische Macht- und Dominanzverhältnisse und wie das Recht in der Realität mit ihnen umgeht.
Gibt es noch andere Beobachtungen, die sich schon jetzt machen lassen?
Paula Edling: Bereits unsere Akteneinsicht in 336 Gewaltschutzverfahren an Berliner Familiengerichten lässt erkennen, dass nur knapp die Hälfte der Anträge zu einer Schutzanordnung führt. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass sich die Personen in einer akuten Belastungs- oder Bedrohungssituation befinden, wenn sie den Weg zum Gericht auf sich nehmen.
Wem widmen Sie sich in Ihrer Promotionsforschung?
Paula Edling: Da ich mich mit der Rechtspraxis rund um das Gewaltschutzgesetz beschäftige, ist meine Zielgruppe entsprechend definiert: Es sind alle Menschen, die von Partnerschaftsgewalt, auch von Nötigung oder Stalking betroffen sind. Zu einem absoluten Großteil handelt es sich dabei um Gewalt zwischen (Ex-)Beziehungspartner:innen. Laut Statistik sind etwa 80 Prozent der Täter:innen männlich, der Rest weiblich – bei den Betroffenen ist das Geschlechterverhältnis umgekehrt. Natürlich sind auch queere Menschen von Gewalt betroffen.
„Gewalt ist ein verbreitetes Phänomen
über alle gesellschaftlichen Schichten hinweg“
Kann man die Zielgruppen über das Geschlecht hinaus genauer beschreiben?
Paula Edling: Die Gruppe der Gewaltbetroffenen lässt sich nur schwer nach anderen, zum Beispiel sozioökonomischen Kriterien definieren. Gewalt ist ein Phänomen, das in allen sozialen Bereichen vorkommt. Wir wissen aber zum Beispiel, dass Menschen mit Behinderungen oder Pflegebedürftige stärker von Gewalt betroffen sind.
Betroffene von Gewalt kommen also aus allen Schichten. Gilt das auch für die Hilfesuchenden, die sich zum Beispiel an die Polizei wenden?
Paula Edling: Um sich an Behörden wie die Polizei zu wenden, muss man erst einmal das Gefühl dafür haben, dass mir Unrecht geschieht und dass ich ein Recht auf Unterstützung habe. Das ist nicht immer der Fall. Außerdem wissen noch weniger Betroffene von rechtlichen Möglichkeiten wie dem Gewaltschutzgesetz. Aber selbst, wenn sie davon wissen, sind die Hintergründe von Gewalt in Partnerschaften komplex, weil zum Beispiel finanzielle und emotionale Abhängigkeiten bestehen. Dann stellen sich Fragen wie: Was passiert, wenn ich mich trenne? Kann ich vor Gericht gehen und meinen Partner „anzeigen“? Deshalb ist es wichtig, dass Betroffene über Handlungsmöglichkeiten und Konsequenzen beraten werden.
Ein gutes Stichwort. Sie werden nicht nur Gespräche mit Behörden, sondern auch mit Beratungsorganisationen führen, mit denen wir als Stiftung in unserem Förderalltag für einen besseren Zugang zum Recht zusammenarbeiten.
Paula Edling: Genau, ich werde auch die vorinstitutionelle Ebene betrachten. Wenn Betroffene Hilfe suchen, wenden sie sich oft zuerst an zivilgesellschaftliche Unterstützungsstrukturen wie Frauenberatungsstellen. Diese sind darauf spezialisiert, gewaltbetroffene Frauen in schwierigen Lebenssituationen zu begleiten und verfügen in der Regel über psychologisches Fachwissen. Im Vergleich zu staatlichen Beratungsstellen haben sie daher in der Regel eine hohe Kompetenz und ein fundiertes Wissen im Umgang mit Gewaltbetroffenen und können diese gezielt auf den Umgang mit Jugendamt, Polizei und Gericht vorbereiten.
„Wir wollen gemeinsam mit der CMS Stiftung Empfehlungen für die Politik
erarbeiten und vorstellen […] Einen Verbesserungsprozess anzustoßen – das wäre ein Erfolg!“
An dieser Stelle können wir als Stiftung unterstützen.
Paula Edling: Darauf freue ich mich besonders. Es ist geplant, dass wir auch mit ausgewählten Förderorganisationen der CMS Stiftung ins Gespräch kommen und sie Dialogräume schafft, in denen wir zum Beispiel qualitative Interviews durchführen können.
Das Forschungsprojekt ist auf drei Jahre angelegt. Neben dem wissenschaftlichen Interesse eint uns noch ein weiteres gemeinsames Ziel.
Prof. Wrase: Ja, die Ergebnisse sollen nicht nur in der Fachliteratur verschwinden. Das WZB wendet sich mit seinen Ergebnissen auch an Gesellschaft und Politik. In diesem Fall ist es unser Ziel, einen Beitrag zur Verbesserung des Zugangs zum Rechtsschutz für gewaltbetroffene Personen in Berlin und vielleicht sogar bundesweit zu leisten. Es geht darum, die wesentlichen Ergebnisse auch in die politische Öffentlichkeit zu tragen. Dazu wollen wir gemeinsam mit der CMS Stiftung Empfehlungen für Senatsverwaltung, Bundesministerien und Politik insgesamt erarbeiten und vorstellen. Gute Ansätze und nächste Schritte zu diskutieren und einen Verbesserungsprozess anzustoßen – das wäre ein Erfolg!
Das wäre es auch für uns. Vielen Dank Ihnen beiden für das Gespräch.